Wenn ich mich abgrenze, erfahre ich viel Feindseligkeit von den Menschen. Ich fühle mich dann zwar nicht mehr vereinnahmt, aber auch nicht mehr verbunden. Wie kann ich in meiner Mitte und doch verbunden bleiben beim Grenzen ziehen?

Eine wichtige Frage, die aus unserer Sicht drei verschiedene Aspekte von Situationen/Verhalten befragt, um in der inneren Mitte zu bleiben und diese zu bewahren. Wir unterscheiden deshalb nachfolgend die drei Begriffe Grenzen ziehen, Abgrenzen und in der Mitte bleiben. Jede funktioniert anders und hat ihre eigenen Herausforderungen.

Eine Grenze ziehen verstehen wir als Ablehnung einer Interaktion. Ihr könnt je nach Situation innerlich ruhig oder aber auch aufgewühlt sein in eurem Nein. Das Grenzen ziehen geschieht immer kommunikativ und linear vom Ich zum Du – und meist sprachlich. Es ist ein Nein-ich-will-nicht. Eine Ablehnung als Reaktion auf eine Aktion, sei diese eine Bitte oder ein Befehl. Das Ziehen der persönlichen Grenze, dieses Nein, will und soll den Energiefluss trennen, das gegenwärtige Verhalten stoppen. Die Art und Weise, wie dieses Nein kommuniziert wird, ob wegstossend oder bestimmt-respektvoll, hängt von der Situation und davon ab, wieweit ihr in eurer Mitte, eurem inneren Raum bleiben könnt. Dazu mehr im letzten Teil.

Sich abgrenzen, eine Mauer oder einen Zaun um sich selbst zu ziehen, ist aus unserer Sicht nicht hilfreich. Hier ist der Fokus nicht im Ich-Du, sondern nur im Du, dem alle Macht gegeben wird. Das Wort Abgrenzen an sich beinhaltet: Das da draussen ist gefährlich und stärker als ich, ich will es weder sehen noch spüren, ich bin das Opfer und muss mich massiv schützen. Diese Mauer blockiert die Energien auf beiden Seiten. Nicht nur das, wovor ihr euch ängstigt, wird blockiert, sondern auch das, was euch stärkt oder was ihr eurerseits geben wollt. Alle Macht ist beim Du.

In-der-Mitte-bleiben hingegen ist keine Abgrenzung. Hier geht es darum, den inneren und eigenen Raum zu bewohnen. Die Energie liegt nicht im Ich-Du, nicht im Du, sondern im Ich und sich-selbst-sein. Ihr fühlt euren Raum und beginnt zu erkennen, wer ihr seid als Wesen, als Selbst. Aus diesem heraus wollt ihr wirken. In diesem Prozess geht es jedoch nicht nur darum, euch und eure Bedürfnisse zu leben, sondern vielmehr darum, diese im grossen Zusammenhang zu sehen. Genauso, wie ihr aus eurer Mitte heraus authentisch leben wollt und sollt, gebietet es der Respekt und die höhere Liebe, dass ihr dies auch anderen zugesteht.

Es geht deshalb nicht darum, in einer Konfliktsituation aus der Mitte heraus gegen andere anzukämpfen. Das generiert Feindseligkeit und trennt euch ab. Es zeigt auch auf, dass ihr euch in eurer Mitte noch nicht sicher fühlt, sie noch nicht tatsächlich in Besitz genommen habt. Wenn ihr euch wahrhaft in eurem Inneren Raum befindet, so fühlt ihr euch sicher, stark und die Kraft der anderen irritiert euch nicht. Ihr wisst: Ich kann deren Energie anhaften lassen oder aber zur Kenntnis nehmen und durch mich hindurch wegfliessen lassen. In diese Mitte gelangt ihr durch Achtsamkeit. Achtsamkeit wiederum entsteht durch Beobachtung, und diese beginnt bei euch.

Wie fühlt ihr euch vor dem Antritt des Besuches der Tante, die sicherlich wieder etwas von euch erbittet. Müde und unwillig? Wenn ihr dies spürt, so konzentriert euch auf diese Gefühle und respektiert sie und euer Befinden. Bleibt ganz in diesem inneren Raum und stellt euch vor, dass ihr aus dieser Befindlichkeit heraus beobachtet. Die Tante überhäuft euch vielleicht mit ihren Problemen und Bitten oder unterschwelligen Erwartungen und Vorwürfen. Wenn ihr in eurer Mitte seid, könnt ihr neutral wahrnehmen, wie euer System darauf reagiert. Vielleicht wollt ihr nachgeben und Ja sagen, obwohl ihr die Energie nicht habt? Warum? Was befürchtet ihr zu verlieren, wenn ihr zu eurem inneren Raum und einem Nein steht?

Vielleicht wollt ihr beim Nein bleiben, nehmt jedoch durch die beobachtende Distanz und die Sicherheit eures inneren Raums wahr, wie verzweifelt eure Tante ist? Dies kann euch helfen, keine trennende Grenze zu ziehen, keine Abgrenzungsmauer aufzubauen, sondern zu euch zu stehen im Sinne von: Ich würde dich gerne unterstützen, aber heute kann ich nicht (das, oder auf diese Weise kann ich nicht, etc.). Denn wenn ihr in eurer Mitte lebt, dann steht ihr für euch ein und könnt diesen Anspruch auch kommunizieren.

Anfänglich mag es oft geschehen, dass ihr euren Raum harsch verteidigt oder euch nicht wagt, zu erklären, warum ihr so handelt oder nicht-handelt. Der Grund liegt meist darin, dass ihr euch noch nicht sicher fühlt in eurem Raum und eurer Stärke. Die Vorstellung, zu kommunizieren, löst die Angst aus, dann doch noch vereinnahmt zu werden. Also flüchtet ihr wortlos in euren Raum oder stosst die Mitmenschen weg, und dies löst Frustration im Gegenüber aus.

Ja stärker ihr euren Raum jedoch bewohnt, desto klarer wird, dass ihr ihn nicht verteidigen müsst, sondern nur zu ihm stehen sollt. Wenn ihr gelernt habt, euer Bedürfnis zu respektieren, so wird diese Selbstliebe euch stärken und ihr werdet zu diesem Raum. Aus dieser Ruhe heraus wird es euch auch gelingen, den Raum eures Gegenübers zu erkennen und zu respektieren. Ihr nehmt den Menschen hinter der Forderung wahr und versteht, dass oftmals zwei Räume mit verschiedenen Bedürfnissen aneinanderprallen. Dadurch entsteht der Wunsch zu verstehen, der Wunsch, sich nicht abzutrennen, sondern neue Verbindung zu schaffen – ohne den inneren Raum zu verfälschen.

Es ist möglich, authentisch und wahrhaftig zu leben, bei sich zu bleiben und trotzdem offen und voller Empathie – für sich wie für die anderen – zu kommunizieren. Abgrenzung und Trennung kämpft gegen etwas an; den inneren Raum zu beleben bedeutet, für sich einzustehen und trotzdem in Verbindung zu bleiben. Dadurch entsteht aus dem Fokus Ich/Selbst eine vertieftere Ich-Du Verbindung.

Ein Nein aus dem gelebten inneren Raum heraus übermittelt dem Gegenüber: Für mich stimmt das jetzt nicht, aber das heisst nicht, dass ich dich wegstosse, sondern nur, dass dein Bedürfnis und meines in diesem Punkt nicht übereinstimmen.

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Kommentar von sarah |

Liebe Astrid
Oft kommen die Menschen zu mir in meine Praxis mit dem Wunsch: "ich will lernen, mich besser abzugrenzen". Du hast hier wunderbar beschrieben, dass es nicht immer darum geht Grenzen zu ziehen oder sich abzugrenzen. Aber immer darum, bei sich und in seinem eigenen Raum zu bleiben und aus diesem heraus zu agieren. Dies zu lernen ist gar nicht immer einfach. Jedoch lohnt es sich sehr, genau zu beobachten, wahrzunehmen und zu üben. Danke ganz herzlich für diesen wunderbaren und sehr hilfreichen Monatstext.
Herzlichst, Sarah

Kommentar von Sandra |

Herzlichen Dank Astrid/Echnatiel. Wie kann ich meinen inneren Raum/innere Kraft auch noch stärken? Was kann ich täglich tun, um in meine Mitte zu kommen UND darin zu bleiben? Herzgruss


Antwort von Astrid Spirig

Liebe Sandra, fremde Energien/fremde innere Räume können wir nur spüren, wenn wir den eigenen wahrnehmen. Eine gute Übung ist es, vor jedem Treffen oder betreten eines Ortes in sich zu gehen und fühlen, wie es dir geht, dir vorstellen, wie gross deine Aura gerade ist und wie sie sich anfühlt. Je öfter du das machst, desto schneller geht es und desto zuverlässiger nimmst du dann wahr, wenn andere Energien dich vereinnahmen wollen. Wenn du das merkst, gehst du mit deiner Wahrnehmung sofort in deinen inneren Raum. Falls er kleiner geworden ist, vergrösserst du ihn in Gedanken. Das alles geschieht mit der Zeit blitzschnell und während du sprichst. Wenn du diese Energie quasi bei dir behältst, aus dieser heraus sprichst, dann kommunizierst du auf neutraler Ebene. Das Verbandeln in einem unangenehmen Gespräch zeigt sich nämlich als erstes energetisch. Wenn du gerne mental arbeitest, kannst du zusätzlich beim wahrnehmen deines Raums und deiner Gefühle eine Skala einsetzten. "Wie sehr bin ich bei mir von 0-10?" und sobald du Ärger oder Angst spürst, wieder die Skala einschätzen. Falls der Wert gesunken ist, den inneren Raum wahrnehmen und füllen. Der innere Raum, die Energie darin, hat ihre eigene Wirkung. Ihn wahrzunehmen genügt. Hilft das? Lieber Gruss, Astrid

Kommentar von Elisabeth |

Vielen Dank für diese differenzierte und klar verständliche Beschreibung. Dies ist ein weites Übungsfeld, bei sich zu bleiben und doch empathisch zu sein im Hinblick auf die Bedürfnisse des Gegenüber. So gelingt gute und lösungsorientierte Kommunikation.

Kommentar von Othmar |

In den meisten Fällen wo ich nicht nein sagen konnte, ist aus der Überlegung heraus, dass ich dem anderen die "schlechten Gefühle" des "Wegstossens" vermeiden möchte, da ich dies selbst überhaupt nicht gerne erlebe. Somit war/ist für mich in erster Linie dies ein erster Schritt, dieses Gefühl für mich selbst erlebbar zu machen - bzw. einfach in diesem Sinne mir klar werden "Für mich stimmt das jetzt nicht, aber das heisst nicht, dass ich dich wegstosse, sondern nur, dass dein Bedürfnis und meines in diesem Punkt nicht übereinstimmen." Danke für diesen schönen Schlusssatz.

Was ist die Summe aus 6 und 6?